Perinatalsterblichkeit in Weißrussland (Belarus)


Das Gebiet (oblast) Gomel ist die vom Tschernobyl Fallout vom stärksten betroffene Region von Belarus. Während in München Strontium keinen nennenswerten Anteil am Tschernobyl-Fallout hatte (210 Bq/m² Sr-90 gegenüber 20.000 Bq/m² Cs-137) überstieg 1986 die Strontiumkonzentration in Teilen von Gomel außerhalb der 30-km Sperrzone 37.000 Bq/m²



Abb.1: Trends der Perinatalsterblichkeit in den Jahren 1985-1998 in den Gebieten Gomel, der Hauptstadt Minsk (im folgenden kurz Minsk genannt) und in Belarus ohne Gomel und Minsk.


1994 gibt es einen Anstieg der Perinatalsterblichkeit in allen drei Datensätzen, eine Folge der Neudefinition des Kriteriums für Totgeburten.
Bei den Daten aus Minsk fällt auf, dass die Perinatalsterblichkeit vor 1995 wesentlich höher liegt als im Rest von Belarus, und nach 1995 plötzlich um 50% absinkt. Dieser ungewöhnliche Verlauf hat wohl kaum biologische Ursachen. Die Daten aus Minsk werden deshalb bei der Analyse der Daten aus Belarus nicht berücksichtigt.

Eine Trendanalyse ist aus den folgenden Gründen problematisch. Erstens gab es eine Änderung der Definition der Totgeburten innerhalb des Untersuchungszeitraum. Zweitens könnte auch der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 einen zusätzlichen Einfluss auf den Verlauf der Daten gehabt haben. Um einen möglichen Strahleneffekt zu finden, ist es deshalb aussichtsreicher, das Verhältnis der Perinatalsterblichkeit im Studiengebiet (Gomel) zu der Sterblichkeit im Vergleichsgebiet (Rest von Belarus ohne die Hauptstadt Minsk) zu untersuchen.


Methode

Das Verhältnis der Rate p1 im Studiengebiet zur Rate p0 im Vergleichsgebiet kann durch die odds ratio (OR) ausgedrückt werden, die folgendermaßen definiert ist:

OR = (p1/(1-p1)) / (p0/(1-p0)).

Den Verlauf der OR im Zeitraum 1985-1998 zeigt Abbildung 14. In den Jahren 1985-88 liegen die OR sehr nahe bei 1, mit Ausnahme des Jahres 1987, in dem die OR etwa 1,09 beträgt. Von 1990 bis 1998 liegen die OR jedoch zwischen 1,2 und 1,3; die Perinatalsterblichkeit ist in Gomel in den 1990er Jahren also zwischen 20% und 30% gegenüber der Vergleichsregion erhöht.

Eine mögliche Erklärung für den Anstieg der Perinatalsterblichkeit 4 Jahre nach Tschernobyl wäre, dass es sich dabei um eine Spätwirkung der Strontiumbelastung von jungen Mädchen handelt, die sich zur Zeit des Reaktorunglücks im Stadium des größten Längenwachstums der Knochen befanden. Radioaktives Strontium, das chemisch dem Calcium gleicht, wird in dieser Zeit bevorzugt in die Knochen eingebaut. Die Dauerbestrahlung des Knochenmarks durch den Betastrahler Strontium könnte zu einer Schwächung der Immunabwehr führen. Wenn diese Mädchen einige Jahre später schwanger werden, tragen sie womöglich ein größeres Risiko, ihr Kind bei der Geburt zu verlieren.

Es wird nun eine gewichtete Regression der Logarithmen der odds ratios durchgeführt mit dem Modell

ln(OR) = β0 +β1·d87 +β2·sr(t),

wobei Parameter β0 einen möglichen Unterschied in den Basisraten im Studiengebiet und im Vergleichsgebiet berücksichtigt, β1 den Effekt im Jahr 1987 (Dummy-Variable d87), und β2 den Einfluss der Strontiumbelastung der werdenden Mütter schätzt. Der Ausdruck sr(t) ist die berechnete Strontiumbelastung in schwangeren Frauen. Dabei wird vereinfachend angenommen, dass Strontium nur im ersten Jahr nach Tschernobyl und nur von solchen Mädchen inkorporiert wurde, die 1986 gerade 14 Jahre alt waren. In die Berechnung von sr(t) geht einerseits die Altersverteilung gebärender Frauen ein, andererseits die effektive Halbwertszeit von Strontium im menschlichen Körper.

Für die Wichtung der odds ratios gilt die einfache Formel

var = 1/n1 + 1/(N1-n1) + 1/n0 + 1/(N0-n0),

wobei n1 and n0 die Zahl der perinatal gestorbenen Neugeborenen im Studiengebiet (1) und im Vergleichsgebiet (0) sind. N1 und N0 sind die entsprechenden Zahlen von Lebend- plus Totgeborenen. Der Parameter β2 wird mit einem zweiseitigen t-Test auf Signifikanz getestet (Nullhypothese H0: β2=0).


Ergebnisse

Das Modell ermöglicht einen guten Fit an die Daten. Die Summe der Fehlerquadrate ist 7,3 (df=11) mit und 29,7 (df=12) ohne den Strontiumterm. Der Strontiumterm ist hochsignifikant (p=0,0006). Parameter β0 ist 0,022 ± 0.027, d.h. vor Tschernobyl gab es keinen nennenswerten Unterschied in der Perinatalsterblichkeit zwischen Studien- und Vergleichsgebiet. Der Effekt im Jahr 1987 ist nicht signifikant (β1=0,055 ± 0,060; p=0,462). Eine Regression mit β0=0 verschlechtert die Anpassung an die Daten nicht: Die Summe der Fehlerquadrate erhöht sich von 7,3 (df=11) auf 7,7 (df=12).

Abb.2: Odds ratios der Perinatalsterblichkeit in Belarus (Punkte) und Verlauf der Strontiumbelastung werdender Mütter (Linie)


Das Ergebnis einer Regression mit
β0=0 ist die durchgezogene Linie in Abb.2. Die odds ratios liegen nach 1990 bei 1,3; die Perinatalsterblichkeit war also in Gomel in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ca. 30% höher als im Rest von Belarus ohne die Hauptstadt Minsk. Unter den Modellannahmen errechnet sich eine Zahl von 431 in den Jahren nach Tschernobyl (1987-1998) zusätzlich gestorbenen Neugeborenen.