Strahlenbiologische Plausibilität


Die Autoren der KiKK-Studie stellen in der Zusammenfassung der Studienergebnisse fest, dass nach heutigem strahlenbiologischem Wissen die erhöhten Krebs- bzw. Leukämieraten nicht mit den radioaktiven Emissionen der Kernkraftwerke erklärt werden können. Die Strahlung, wird gesagt, müsste um mindestens einen Faktor 1000 höher sein um die beobachteten Effekte zu erklären.

Aber stimmt das? Wie gesichert ist unser strahlenbiologisches Wissen?

Bei meiner Auswertungen der Daten der Michaelisstudie fand ich heraus, dass sich die Erhöhung der Krebsrate im Nahbereich von KKWs nur bei Kleinkindern zeigt. Bei 5-14 jährigen Kindern gab es keine Erhöhung der Krebsrate. Nun wird aber gesagt, die Latenzzeit sei bei kindlichen Leukämien 3-5 Jahre. Man würde das Maximum des Effekts also vorwiegend bei Kindern über 5 Jahren erwarten. Tatsächlich tritt das Maximum der Inzidenz von kindlichen Tumoren aber im Alter von ca. 3 Jahren auf.

Prof. Walther, Haunersche Klinik München, geht davon aus, dass praktisch alle Tumoren bei Kleinkindern unter 5 Jahren embryonalen Ursprungs sind. Ein embryonaler Ursprung der Tumoren bei Kleinkindern bedeutet aber, dass die Schädigung in den ersten zwei Monaten der Schwangerschaft stattfindet, in einer Zeit sehr rascher Zellteilung, in der eventuelle Reparaturen an der DNA wegen ihrer relativ langen Zeitdauer (bis ca. 10 Stunden) oft nicht mehr erfolgreich abgeschlossen werden können. Die Strahlenempfindlichkeit könnte in dieser Phase um bis zu 1-2 Größenordnungen größer sein als in den späten Stadien der Schwangerschaft, in denen vor der Einführung von Ultraschalluntersuchungen  diagnostisches Röntgen praktiziert wurde.

Nach Tschernobyl fand man signifikant erhöhte Leukämieraten in Westeuropa nur bei Kindern im ersten Lebensjahr, z.B. in Griechenland (Petridou et al.) und auch in Deutschland (Steiner et al.). In der ehemaligen Sowjetunion wurde eine Leukämiestudie bei Kindern in den höchstbelasteten Gebieten um Tschernobyl durchgeführt (Susanne Becker). Meine Reanalyse der Daten ergab einen deutlich signifikanten Anstieg der Leukämierate im Jahr 1987 (bei Jungen dreimal so groß wie bei Mädchen). Auch Daten aus Weißrussland (gesamt) zeigen einen signifikanten 30%-igen Anstieg im Jahr 1987 (Malko et al., unveröffentlicht).

Fragen stellen sich auch bezüglich der Dosisberechnung, insbesondere bei inkorporierten Radionukliden. Ist das ICRP Modell der Mittelung der Strahlungsenergie über das gesamte betrachtete Organ adäquat, insbesondere bei weichen Betastrahlern wie Tritium und Alfastrahlern mit sehr kurzen Reichweite? Manche Wissenschaftler (z.B. Chris Busby, England) sind der Meinung, dass mit der ICRP-Methode die tatsächliche Strahlenexposition um bis zu 2 Größenordungen unterschätzt wird.

Zusammenfassend kann der Hinweis auf das aktuelle strahlenbiologische Wissen m.E. nicht herangezogen werden, um einen ursächlichen Zusammenhang der erhöhten Krebs- und Leukämieraten bei Kleinkindern mit den radioaktiven Emissionen von Kernkraftwerken auszuschließen. Im Gegenteil muss der starke epidemiologische Befund der KiKK-Studie Anlass sein, das strahlenbiologische Wissen in Frage zu stellen.

 

Eigene Überlegungen zur Stützung der Strahlenhypothese

Das auffälligste Ergebnis der KiKK Studie, eine Verdopplung des Leukämierisikos bei Kleinkindern im Nahbereich von Kernkraftwerken (KKW), gibt Rätsel auf. Die Erhöhung ist statistisch so deutlich signifikant, dass Zufall praktisch ausgeschlossen werden kann. Ein wesentlicher Einfluss anderer bekannter Risikofaktoren wurde in der Studie nicht gefunden. Auch wegen der Konzentration der Erhöhung des Leukämierisikos auf den unmittelbaren Nahbereich der KKW scheiden andere Ursachen als Strahlung praktisch aus.

Da die Dosisbelastungen für Kleinkinder im Nahbereich der Kernkraftwerke in den Jahresberichten der Bundesregierung zur Strahlenexposition mit einigen µSv/a pro Jahr angegeben werden (u.a. Philippsburg 8 µSv, Gundremmingen 6 µSv, Isar 4 µSv, siehe Bericht für das Jahr 2006, S.17 [7]). Systematische Fehler bei der Ermittlung der Strahlenbelastung durch die Ausbreitungsrechnungen nach AVV, sowie zu kleine Dosisfaktoren für inkorporierte Radionuklide, könnten zusammen durchaus zu einer Unterschätzung der Strahlenbelastung um ein bis zwei Größenordungen (Faktor 10 bis 100) führen. Um die Ergebnisse der KiKK Studie zu erklären, wäre aber ein Faktor 1000 erforderlich. Wäre es nicht denkbar, dass bisher etwas übersehen wurde?

In der Regel geht man davon aus, dass eine prozentuale Erhöhung der Hintergrundstrahlung eine ebenso große prozentuale Erhöhung des Strahlenrisikos bedeutet. Dies ist aber nur dann richtig, wenn die Dosis-Wirkungsbeziehung (DWB) linear ist. Nun kennt man aber bis heute die Form der DWB für die pränatale Leukämieinduktion bei sehr niedrigen Dosen/Dosisraten nicht. Monatsdaten der Perinatalsterblichkeit aus Westdeutschland, der Säuglingssterblichkeit in Polen und der Fehlbildungsrate in Bayern zeigen signifikant nichtlineare Abhängigkeiten von der berechneten Cäsiumbelastung der Schwangeren. Während die natürliche Strahlenexposition mit ca. 1 mSv/a (ohne Radonanteil) zeitlich nahezu konstant ist, sind die Emissionen der Kernkraftwerke durch starke zeitliche und örtliche Schwankungen gekennzeichnet. Eine probabilistische Betrachtung ergibt, dass das Risiko überproportional mit der Dosis ansteigt. Dann wird das Risiko durch Emissionsspitzen bestimmt. Der Vergleich mit der im wesentlichen zeitlich konstanten natürlichen Hintergrundstrahlung führt dann zu falschen Schlüssen.

Über die Form der Dosis-Wirkungsbeziehung bei Strahlendosen im Bereich der Hintergrundstrahlung gibt es bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Im Jahr nach Tschernobyl zeigte sich jedoch eine signifikante Erhöhung der Perinatalsterblichkeit in Deutschland [1], obwohl die zusätzliche Strahlenbelastung deutlich unterhalb der Hintergrundstrahlung lag. Dieses Ergebnis widerspricht der Annahme einer Schwellendosis von ca. 100 mSv für teratogene Schäden. Außerdem fand sich ein stark positiv gekrümmter Zusammenhang zwischen der mittleren Cäsiumbelastung von Schwangeren und der Perinatalsterblichkeit; die Sterblichkeit war proportional zum Exponenten 3,5 der Cäsiumbelastung.

Wird im folgenden Rechenbeispiel angenommen, dass auch für die pränatale Induktion von Leukämien eine mit dem Exponenten 3,5 gekrümmte Dosis-Wirkungsbeziehung gilt, dann wird eine um 10% erhöhte zeitlich konstante Strahlenbelastung ein um 40% erhöhtes Risiko bewirken. Noch deutlicher werden die Effekte, wenn davon ausgegangen wird, dass die Emissionen von Kernkraftwerken starken zeitlichen und örtlichen Schwankungen unterworfen sind. Angenommen, die gesamte Strahlendosis eines Jahres werde nur in einem Zehntel des Jahres emittiert, so führt eine um 10% erhöhte mittlere Strahlenbelastung zu einem um 100% erhöhten Leukämierisiko.

Eine gekrümmte Form der Dosis-Wirkungsbeziehung folgt allein aus der plausiblen Annahme, dass sowohl die individuellen Strahlendosen als auch die Strahlenempfindlichkeiten in einer Bevölkerung Zufallsverteilungen (Lognormalverteilungen) unterliegen. Die Rechnung ergibt, dass die Dosis-Wirkungsbeziehung dann die Form einer kumulierten Lognormalverteilung annimmt. Diese weist bei kleinen Werten eine stark positive Krümmung auf.

Nach Meinung des Autors ist damit möglicherweise das fehlende Glied gefunden, um die erhöhte Krebs- und Leukämieinzidenz bei Kleinkindern auch quantitativ zu erklären. Unter Berücksichtigung der Unsicherheiten bei der Dosisberechnung könnte das Modell dazu beitragen, die Lücke zwischen epidemiologischer Evidenz und strahlenbiologischem Wissen zu schließen.

Dieser Gedanke wird in einem Artikel in der Zeitschrift Strahlentelex [2] genauer ausgeführt.


[1] Körblein A, Küchenhoff H. Perinatal Mortality in Germany following the Chernobyl accident. Radiat Environ Biophys 1997; 36 (1): 3-7. http://www.alfred-koerblein.de/chernobyl/downloads/KoKu1997.pdf

[2] Körblein A. Einfluss der Form der Dosis-Wirkungsbeziehung auf das Leukämierisiko. Strahlentelex 2008;524:8-10. http://www.alfred-koerblein.de/cancer/downloads/Stx_08_524_S08-10.pdf