Ökologische Studien in Deutschland und anderen Ländern


Nach der Veröffentlichung der Studie zu Kinderkrebs um deutsche Kernkraftwerke (KiKK-Studie) im Dezember 2007 wurden in Großbritannien [1] und der Schweiz [2] ähnliche Studien durchgeführt. Sie unterscheiden sich zwar von der KiKK-Studie im Studiendesign, sie konzentrieren sich aber wie diese auf die Standorte von Kernkraftwerken, den 5-km Nahbereich und auf Kleinkinder.

In Deutschland wurden 2008 die Daten aus der KiKK-Studie zusätzlich auf Gemeindeebene ausgewertet [3]. Damit war eine gemeinsame Auswertung der Daten aus den drei Ländern (Deutschland, Großbritannien, Schweiz) möglich. Sie ergab eine auf dem 1% Niveau signifikante Erhöhung des Leukämierisikos im 5km-Nahbereich von Kernkraftwerken gegenüber dem Risiko bei Entfernungen größer als 5 km (RR=1,44; p=0,007) [4].

Kürzlich wurde eine neue epidemiologische Studie zu akuten Leukämien bei Kindern im Umkreis der 19 französischen Kernkraftwerke, die sogenannte Geocop-Studie, veröffentlicht [5]. Sie ergab für den Zeitraum 2002-2007 für Kinder unter 15 Jahren ein odds ratio (relatives Risiko) von 1,9 (95%CI: 1,0-3,2) im Vergleich zu Entfernungen r > 20 km. Für Kleinkinder unter 5 Jahren waren die Ergebnisse ähnlich. In der Zusammenfassung der Studie heißt es aber, dass zwischen 1990 und 2001, aber auch im gesamten Zeitraum 1990-2007, kein erhöhtes Leukämierisiko festgestellt wurde.

Ein Blick auf Tabelle 2 der Arbeit ergibt ein anderes Bild. Danach war im gesamten Zeitraum 1990-2007 die Leukämieinzidenz im 5km-Nahbereich für Kinder unter 15 Jahren leicht erhöht (beobachtete Fälle O=24, erwartete Fälle E=21,0), das standardisierte Inzidenzverhältnis (SIR=O/E) betrug 1,14. Für Kleinkinder ergab sich SIR=1,37 (O=14, E=10,2). Vergleicht man SIR für Entfernungen r<5km mit SIR für r>5km, so errechnet sich ein relatives Leukämierisiko für Kleinkinder von RR=SIR(<5km)/SIR(>5km)=1,37/0,93 = 1,48. Die Erhöhung ist zwar nicht signifikant (p=0,225, Binomialtest), sie ist aber ähnlich groß wie in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Die Zahlen für O und E aus Deutschland (D), Großbritannien (GB), Schweiz (CH) und Frankreich (F) in den einzelnen Entfernungszonen enthält Tabelle 1. Im 5km-Nahbereich stimmen die SIR aus den vier Datensätzen recht gut überein.

Tabelle 1: Beobachtete (O) und erwartete (E) Anzahl von Leukämiefällen und SIR=O/E

Datensatz

Abstand r

O

E

SIR

D

3,09

34

24,1

1,41

D

7,62

61

62,9

0,97

D

17,79

356

364,2

0,98

GB

3,0

20

15,4

1,30

GB

7,5

40

51,7

0,77

GB

17,5

354

369,7

0,96

CH

3,0

11

7,9

1,40

CH

7,5

20

23,7

0,84

CH

12,5

34

32,7

1,04

F

3,0

14

10,2

1,37

F

7,5

31

29,5

1,05

F

12,5

29

36,1

0,80

F

17,5

57

60,6

0,94


Gepoolte Analyse

Für die gemeinsame Auswertung der Datensätze werden die Zahlen der beobachten (O) und erwarten (E) Leukämiefälle aus den vier Ländern addiert („gepoolt“). Bei der Schweizer Studie [2] mussten die Werte von E aus anderen Tabellenangaben errechnet werden. Außerdem enthält [2] neben einer Tabelle für den Wohnort bei der Geburt eine zweite für den Wohnort bei Diagnose der Leukämieerkrankung. Weil in allen anderen drei Studien nur der Wohnort bei Diagnose registriert wurde, wurden für die gepoolte Analyse die Daten der zweiten Tabelle verwendet.

Die Ergebnisse der gepoolten Analyse enthält Tabelle 2. Sie ergibt im 5km-Nahbereich ein SIR von 1,37 (95%CI: 1,09-1,71), p=0,0083. Das relative Risiko (RR), also der Quotient von SIR(0-5km) und SIR(>5km), ist RR=1,44 (p=0,0034).

Tabelle 2: Relatives Leukämierisiko (RR) im Nahbereich von Kernkraftwerken

D

O

E

SIR

95% CI

p value*

RR

p value**

0-5 km

34

24,1

1,41

(0,98-1,97)

0,0656

1,45

0,0578

5-30 km

417

427,1

0,98

 

 

 

 

GB

 

 

 

 

 

 

 

0-5 km

20

15,4

1,30

(0,79-2,01)

0,2928

1,39

0,1965

5-25 km

394

421,4

0,94

 

 

 

 

CH

 

 

 

 

 

 

 

0-5 km

11

7,9

1,40

(0,70-2,50)

0,3423

1,46

0,3335

5-15 km

54

56,4

0,96

 

 

 

 

F

 

 

 

 

 

 

 

0-5 km

14

10,2

1,37

(0,75-2,30)

0,3011

1,48

0,2251

5-20 km

117

126,2

0,93

 

 

 

 

D+GB+CH+F

 

 

 

 

 

 

0-5 km

79

57,5

1,37

(1,09-1,71)

0,0083

1,44

0,0034

> 5 km

982

1031,0

0,95

 

 

 

 

* p-Wert, berechnet mit der Poissonverteilung
** p-Wert, berechnet mit der Binomialverteilung


Regressionsanalyse

Zusätzlich wird der Abstandstrend untersucht. Eine gemeinsame Poisson-Regression der Daten aus Tabelle 1 mit einer linearen Abhängigkeit vom reziproken Abstand ergibt einen signifikanten Schätzwert für den Trendparameter (β=1,09; p=0,012). Ein Regressionsmodell mit einer linear-quadratischen Abhängigkeit vom reziproken Abstand erlaubt eine bessere Anpassung an die Daten; das Akaike Informationskriterium (AIC), ein Kriterium für die Anpassungsgüte unter Berücksichtung der Anzahl der Parameter, ist kleiner (AIC=81,91) als für das lineare Modell (AIC=83,33). Das kleinste AIC, und damit die beste Anpassung, erzielt aber ein Modell nur mit einer Dummyvariablen für den Nahbereich (AIC=80,42). Das relative Risiko im 5km Nahbereich gegenüber Entfernungen größer als 5 km beträgt 1,44 (p=0,0018). Mit einem einseitigen Test auf Erhöhung, wie er bei der KiKK-Studie verwendet wurde, ist das Ergebnis sogar hochsignifikant (p=0.0009).

Abbildung 1 zeigt die Werte von SIR für die einzelnen Datensätze und die Regressionslinien mit einem linearen und einem linear-quadratischen Abstandsmodell. In Abbildung 2 sind die Daten aus den einzelnen Entfernungszonen zusammengefasst.

Abbildung 1: Leukämierisiko (standardisiertes Inzidenzverhältnis, SIR) von Kleinkindern in der Umgebung von Kernkraftwerken in Deutschland (D), Großbritannien (GB), der Schweiz (CH) und Frankreich (F). Die durchgezogenen Linien sind Ergebnisse von Regressionen mit einem linearen (dünne Linie) und einem linear-quadratischem Abstandsmodell (stärkere Linie).

Abbildung 2: Leukämierisiko (standardisiertes Inzidenzverhältnis, SIR) von Kleinkindern in der Umgebung von Kernkraftwerken aus D, GB, CH und F, gepoolte Daten, und Regressionslinien. Die Fehlerbalken bedeuten ± 1 Standardabweichung.

Schlussbemerkung

Wie sich in den Daten der Tabelle 2 zeigt, sind die Erhöhungen des Leukämierisikos im Nahbereich von Kernkraftwerken in keinem der vier Länder für sich betrachtet statistisch signifikant. Die gemeinsame Auswertung ergibt aber ein deutlich signifikant erhöhtes Risiko im 5km-Nahbereich gegenüber Entfernungen größer als 5 km (RR=1,44, p<0,001).

In der Schlussbemerkung der GEOCAP-Studie erkennen deren Autoren zwar die Tatsache eines erhöhten Leukämierisikos im Nahbereich französischer Kernkraftwerke an. Mit radioaktiven Abgaben aus den Kernkraftwerken ließe sich dieses aber nicht erklären. Sie schreiben:
“The results suggest a potential excess risk over 2002-2007 that may be due to unknown factors related to the proximity of NPPs … Overall, the findings call for investigation for potential risk factors related to the vicinity of NPP, and collaborative analysis of all the evidence available from multisite studies conducted in various countries.“

Die vorliegende Studie ist eine solche gemeinsame Analyse. Sie weist nach, dass es im Nahbereich von Kernkraftwerken ein signifikant erhöhtes Leukämierisiko gibt.

Quellen

1.   Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment (2011). Fourteenth report. http://www.comare.org.uk/press_releases/documents/COMARE14report.pdf

2.   Spycher BD, Feller M, Zwahlen M, Röösli M, von der Weid NX, Hengartner H, Egger M, Kuehni CE. Childhood cancer and nuclear power plants in Switzerland: A census based cohort study. International Journal of Epidemioloy 2011 doi:10.1093/ije/DYR115. http://ije.oxfordjournals.org/content/early/2011/07/11/ije.dyr115.full.pdf+html.

3.   Kaatsch P, Spix C, Jung I, Blettner M. Childhood leukemia in the vicinity of nuclear power plants in Germany. Dtsch Arztebl Int. 2008 Oct;105(42):725-32.

4.   Körblein A. Die Schweizer CANUPIS-Studie. Strahlentelex (2011) 590-591:14-16
http://www.strahlentelex.de/Stx_11_576_S02-05.pdf.

5.   Sermage-Faure C, Laurier D, Goujon-Bellec S, Chartier M, Guyot-Goubin A, Rudant J, Hémon D, Clavel J. Childhood leukemia around French nuclear power plants - the Geocap study, 2002-2007. Int J Cancer. 2012 Jan 5. doi: 10.1002/ijc.27425. [Epub ahead of print].