Chronologie der Studien zu Kinderkrebs um deutsche Kernkraftwerke


1992:  Veröffentlichung einer Studie des Mainzer Instituts für Medizinische Statistik und Dokumentation (IMSD) zur Inzidenz von Kinderkrebs um deutsche kerntechnische Anlagen (KTA). Die Studie umfasste die Daten von 1980 bis 1990. Hauptergebnis: keine erhöhten Kinderkrebsraten im 15-km Umkreis um KTA, aber signifikant erhöhte Leukämierate bei Kleinkindern unter 5 Jahren im 5-km Nahbereich der KTA (relatives Risiko RR=3.01, P=0.015).

1997:  Veröffentlichung einer zweiten Studie des IMSD (der sog. Michaelisstudie, benannt nach dem Leiter des IMSD, Prof. Michaelis) mit Daten von 1980 bis 1995. Wieder gibt es keinen auffälligen Befund bei allen kindlichen Malignomen im 15-km Umkreis um die KTA (RR=0.99). Die Erhöhung des Leukämierisikos von Kleinkindern im 5-km Nahbereich ist jetzt nicht mehr signifikant (RR=1.49, P=0.060). Wegen des großen Umfangs der Studie sahen die Autoren der Studie die Frage nach einer möglichen Erhöhung der Krebsrate bei Kindern um Kernkraftwerke als ausreichend geklärt an; weiteren Forschungsbedarf gäbe es nicht.

Unverständlich ist, dass die in der ersten IMSD-Studie gefundene Erhöhung der Leukämierate um den Faktor 3 (bei Kleinkindern im Nahbereich) bei Ausdehnung des Beobachtungszeitraums um nur 5 Jahre auf einmal unauffällig wird. Verborgen im Methodenteil der Michaelisstudie findet sich die Erklärung. Zwei methodische Änderungen sind dafür verantwortlich. Einerseits wurde die Größe der Vergleichsgebiete geändert, andererseits wurde anstatt des einseitigen Tests der zweiseitigen Test verwendet.

Anfang 1998 übergab mir Karin Wurzbacher vom Umweltinstitut München ein Exemplar der neuen Studie des IMSD mit der Bitte um kritische Durchsicht. Ich konnte das unauffällige Hauptergebnis der Studie bestätigen, fand aber eine signifikante 22%-ige Erhöhung der Krebsraten von Kindern im 5-km Nahbereich dann, wenn nur die Standorte von kommerziellen Kernkraftwerken betrachtet werden, wenn also drei lange Zeit abgeschaltete Kernkraftwerke (Kahl, Mülheim-Kärlich, Hamm-Uentrop) und zwei kleine Forschungsreaktoren (Karlsruhe, Jülich) unberücksichtigt bleiben (P=0.047). Außerdem zeigte sich eine signifikante Abhängigkeit der Krebsrisikos von der Entfernung zum KKW.

Im Sommer 1998 erhielt ich von Prof. Michaelis die Daten der Krebsfälle und Leukämien bei Kleinkindern im 5-km Nahbereich von kerntechnischen Anlagen in der von mir gewünschten zusammengefassten Form (alle 15 KKW-Standorte, alle 7 Standorte mit zumindest einem Siedewasserreaktor, alle 20 Standorte von kerntechnischen Anlagen). Die Analyse der Daten ergab eine 54%-ige Erhöhung der Krebsrate (P=0.0034) und eine um 76% erhöhte Leukämierate (P=0.012). Die Ergebnisse wurden im August 1999 in der amerikanischen Fachzeitschrift Medicine and Global Survival veröffentlicht.

Auch eine Studie des Bundesamts für Strahlenschutz aus dem Jahr 1995 zu Kinderkrebs um bayerische kerntechnische Anlagen  hatte keine erhöhten Krebsraten um Kernkraftwerke ergeben. Die Studie enthielt aber auch den Forschungsreaktor Garching (4 MWth) und den kleinen, längst stillgelegten Versuchsreaktor Kahl (16 MWel). Meine Auswertung der Daten ohne diese beiden Standorte ergab dagegen eine signifikante 35%-ige Erhöhung der Kinderkrebsrate um die bayerischen Kernkraftwerke in den Jahren 1983-92 (P=0.0043). Die größte Erhöhung (+56%) verzeichnete der Standort Gundremmingen mit 2 großen Siedewasserreaktoren.

Im Umweltinstitut München, wo ich seit November 1998 arbeitete, fand ich Daten der Krebsraten bei Kindern auf in den bayerischen Landkreisen in den Jahren 1983-1989. Die Analyse ergab eine hochsignifikante Erhöhung der Krebsrate in den Landkreisen um die 3 Standorte von Kernkraftwerken. Dieses alarmierende Ergebnis veranlasste die Ulmer Ärzteinitiative (Ärztinnen und Ärzte in sozialer Verantwortung), eine Regionalgruppe der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), das BfS um die Daten für einen längeren Zeitraum zu bitten. Diese Daten wurden mir von der IPPNW Ulm zur Auswertung überlassen. Wieder zeigte sich eine signifikante 30%-ige Erhöhung der Kinderkrebsrate um die bayerischen KKWs im Zeitraum 1983-1993. Spitzenreiter mit 40% war wieder der Standort Gundremmingen.

Reinhold Thiel von der Ulmer Ärzteinitiative schlug daraufhin Alarm. Mit einer bundesweiten Unterschriftkampagne (über 10.000 Unterschriften) wurde das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) aufgefordert, den auffälligen Befunden nachzugehen. Bei einem Treffen zwischen BfS, IPPNW und dem Umweltinstitut München im Juli 2001 entschied das BfS, dass den auffälligen Befunden mit einer neuen Studie nachgegangen werden solle.

Ende 2001 wurde vom BfS ein Expertengremium einberufen, das ein Design für die zu vergebende Studie erarbeiten sollte. Man einigte sich auf ein Fall-Kontroll-Studiendesign. Den Zuschlag für die Studie erhielt das Mainzer Kinderkrebsregister, das im Frühjahr 2003 die Arbeit an der Studie aufnahm. Im Expertengremium waren auch Kritiker der Kernenergie vertreten, neben mir auch Karin Wurzbacher vom Umweltinstitut München und Dr. Sebastian Pflugbeil von der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz. Die Ergebnisse der Studie erfuhr die Öffentlichkeit am 8. Dezember 2007 aus der Presse. Nur wenige Tage vorher wurde der Abschlussbericht der Studie an die Mitglieder des Expertengremiums verschickt - zu spät um am Wortlaut des Abschlussberichts noch etwas zu ändern. Da dem Gremium auch die erhobenen Daten nicht zugänglich gemacht wurden, war ihm eine Überprüfung der Ergebnisse der Studie nicht möglich.