Kinderkrebs in den Landkreisen um bayerische Atomkraftwerke
Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der sogenannten Michaelis-Studie, so benannt nach dem Leiter des Instituts für Medizinische Statistik und Dokumentation in Mainz, an dem das deutsche Kinderkrebsregister geführt wird, wurde gesagt, weitere Arbeiten zu diesem Thema seien nicht mehr notwendig, da diese Studie keine erhöhten Krebsraten in der Nähe deutscher Kernkraftwerke fand (1). Allerdings ergab meine Neuauswertung der gleichen Daten vor drei Jahren eine signifikante Erhöhung der Krebsrate bei Kleinkindern um 54% im Nahbereich der Kernkraftwerke, wenn allein die 15 Standorte von Leistungsreaktoren, nicht aber die 5 Standorte von Forschungsreaktoren und stillgelegten Reaktoren in die Untersuchung einbezogen werden (2). Eine Arbeit des Bundesamts für Strahlenschutz vom November 1995 (3) hatte ebenfalls keine Auffälligkeit bei kindlichen Krebsraten um die 5 Standorte von bayerischen kerntechnischen Anlagen ergeben. Auch dieser Befund kehrte sich ins Gegenteil um, wenn nur die Standorte von Kernkraftwerken, nicht aber der kleine Forschungsreaktor in Garching (4 MW) und der schon 1985 stillgelegte Versuchsreaktor in Kahl (16 MWel) in die Auswertung mit einbezogen wurden. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, ob sich auch aus den Daten der Krebsinzidenz in den bayerischen Landkreisen eine erhöhte Krebsrate bei Kindern um bayerische Kernkraftwerke errechnet.
Die Daten der Krebsinzidenz bei Kindern unter 15 Jahren wurden einem Bericht des Bundesamts für Strahlenschutz vom Juni 2001 entnommen (4). Die Angaben zur Bevölkerungsdichte in den bayerischen Landkreisen wurden vom bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung bezogen. In der Michaelis-Studie wurden die Krebsraten in den Regionen um die Kernkraftwerke mit denen in geeignet gewählten Vergleichsregionen abseits der Kernkraftwerke verglichen. Dieses Verfahren hat gegenüber dem Vergleich mit dem Landesdurchschnitt den Vorteil, dass auf standortspezifische Besonderheiten Rücksicht genommen werden kann, führt aber zu einer größeren Unsicherheit beim Vergleich der Inzidenzen, da sich die statistischen Streuungen (Varianzen) im Untersuchungs- und im Vergleichsgebiet addieren. Je größer das Vergleichsgebiet, desto kleiner ist die zugehörige Varianz, was den Nachweis eines möglichen Effekts erleichtert. Auch bedeutet die Wahl eines Vergleichsgebiets immer eine gewisse Willkür. So könnte ein Vergleichsgebiet zwar außerhalb der 15 km Zone um das KKW liegen, aber in Windrichtung, wo es womöglich ebenfalls Emissionen des KKW ausgesetzt ist. Die vorliegende Untersuchung verzichtet auf die Festlegung von Vergleichsgebieten. Stattdessen wird mit Hilfe einer varianzgewichteten Regressionsanalyse die Krebsrate in den Landkreisen um die KKW-Standorte mit der in den restlichen bayerischen Landkreisen verglichen. Als KKW-Region wurden um jeden Standort 3 Landkreise ausgewählt: der Standort-Landkreis, der unmittelbar benachbarte Landkreis, und - wegen der vorherrschenden Windrichtung - der sich östlich anschließende Landkreis. Im einzelnen sind das die Landkreise Landshut-Stadt, Landshut-Land und Dingolfing, Schweinfurt-Stadt, Schweinfurt-Land und Hassberge, und Dillingen, Günzburg und Augsburg-Land. Für die Regressionsrechnung werden diese Landkreise mit einer Indikatorvariablen (KKW) gekennzeichnet, und das Zusatzrisiko dort aus den Daten geschätzt. Da sich in den Daten auch eine Abhängigkeit der kindlichen Krebsrate von der Bevölkerungsdichte zeigte, wurde auch diese berücksichtigt. Weil die Daten aller 96 Landkreise in die Regression eingehen, wird beim Signifikanztest eine gegenüber der statistischen Erwartung erhöhte Streuung in den Daten (Overdispersion) berücksichtigt. Das Ergebnis des Signifikanztests ist damit konservativer als bei dem Verfahren, das in der Michaelis-Studie verwendet wird. Das Regressionsmodell (Poissonregression, Statistikpaket R) hat die Form (R-Notation): fm <- glm(O~offset(log(E))+urb+KKW,family=quasipoisson) Dabei ist O die Anzahl der beobachteten Krebsfälle und E die aufgrund des bayerischen Durchschnitts erwartete Zahl von Krebsfällen. urb ist die Bevölkerungsdichte (in 1000 Einwohnern pro km²), KKW ist eine Indikatorvariable, welche die Landkreise um die Kernkraftwerke kennzeichnet.
Die Regressionsrechnung mit dem Programm R ergibt die in der folgenden Tabelle angegebenen Schätzwerte für die Parameter, die zugehörigen Standardabweichungen (SE), die t-Werte und die p-Werte.
Abbildung 1 zeigt die Werte von SIR an den drei Standorten von
bayerischen Kernkraftwerken und den 90% Vertrauensbereich, dazu die
standardisierte Inzidenzrate (SIR) um alle bayerischen KKW und um die beiden Standorte von
Siedewasserreaktoren (KKI, KRB), jeweils zusammengefasst. Um den Standort Gundremmingen ist die Erhöhung der Krebsrate auch einzeln
signifikant (p=0,004). Fasst man beide Standorte von Siedewasserreaktoren
(Gundremmingen und Isar) zusammen, so
beträgt die Erhöhung 27% und ist hochsignifikant (p=0,0009). Abb.1: Relatives Krebsrisiko (standardized incidence ratio, SIR) für Kinder um die bayerischen Kernkraftwerke Isar (KKI), Grafenrheinfeld (KKG) und Gundremmingen (KRB), um alle bayerischen KKW und um die beiden Standorte von Siedewasserreaktoren (SWR) KKI und KRB zusammengefasst. Der Fehlerbalken zeigt den 90% Vertrauensbereich.
In der Diskussion, die sich an die Veröffentlichung der Ergebnisse in den Medien anschloss, wurde unter anderem gesagt, es sei nicht einzusehen, dass der Forschungsreaktor in Garching nicht in die Untersuchung einbezogen werde, da er ja höhere radioaktive Abgaben habe als ein typischer Leistungsreaktor. Wie aber aus dem Bericht des Bundesumweltministeriums "Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1996" hervorgeht, lagen die Ableitungen radioaktiver Stoffe mit der Abluft aus bayerischen Kernkraftwerken bei radioaktiven Edelgasen in der gleichen Größenordnung wie beim Forschungsreaktor Garching, aber bei Aerosolen, bei Jod-131, Kohlenstoff-14 und Tritium um bis zu 4 Größenordnungen höher. Von offiziellen Stellen, insbesondere vom Bayerischen Umweltministerium, wurden alle bisherigen Befunde, die erhöhte Krebsraten um Kernkraftwerke ergaben, nicht ernst genommen. In den letzten Verlautbarungen des BfS werden die Zahlen zwar akzeptiert, allerdings wird gesagt, die Art der Untersuchung, eine ökologische Studie, erlaube prinzipiell keine Kausalschlüsse. Interessant ist nur, dass die negativen Ergebnisse der amtlichen Studien, die ja ebenfalls vom ökologischen Studientyp sind, sehr wohl für den Unbedenklichkeitsnachweis von Kernkraftwerken herangezogen werden.
(1) Kaletsch U, Meinert R, Miesner A, Hoisl M, Kaatsch P, Michaelis J. Epidemiologische Studien zum Auftreten von Leukämieerkrankungen in Deutschland. IMSD-Technischer Bericht, Juli 1997 (2) Körblein A, Hoffmann W. Childhood Cancer in the Vicinity of German Nuclear Power Plants. Medicine & Global Survival, August 1999, Vol.6: 18-23 (3) Van Santen F, Irl C, Grosche B, Schötzau A. Untersuchungen zur Häufigkeit kindlicher bösartiger Neubildungen und angeborener Fehlbildungen in der Umgebung bayerischer kerntechnischer Anlagen. BfS-Bericht vom November 1995 (4) Jahraus H, Grosche B. Fortschreibung des Berichts Inzidenz und Mortalität bösartiger Neubildungen in Bayern. BfS-Bericht vom Juni 2001 |